Friedrich Dürrenmatt, »Der Doppelgänger« (1946)
Korrespondenz mit Studio Bern, 1950

Der fünfundzwanzigjährige Friedrich Dürrenmatt stellte sich 1946 in einem Brief an Ernst Bringolf, den damaligen Hörspielleiter von Studio Bern, mit den folgenden Worten vor: »Mein Name wird Ihnen unbekannt sein, und es sind denn auch wenige, die ihn kennen. // Wenn ich Ihnen ein Hörspiel zusende, so nur deshalb, weil mich das Hörspiel als neue künstlerische Möglichkeit interessiert, die noch viel zu wenig in Betracht gezogen wird. [...]« (1) Eine Anfrage des NWDR Köln, der eine Radioadaption seines Stücks »Die Wiedertäufer« – gemeint ist Dürrenmatts dramatischer Erstling »Es steht geschrieben« – parallel zur geplanten Bühnenpremiere in Betracht zog, hatte dem Autor den Mut zu diesem Schritt gegeben. Sein Wunsch nach einem Gespräch, von dem er sich Aufschluss über die »Fehler« erhoffte, die er »in diesem Hörspiel begangen« habe, wurde aber nicht erfüllt; der »Doppelgänger« fand bei Studio Bern keine Gnade. Das Hörspiel wurde erst 1960 in einer Koproduktion von NDR/BR und 1975 schliesslich von neuem durch Studio Bern (DRS-2, 1.2.75) realisiert und gesendet, lange nachdem Elisabeth Brock-Sulzer seine Bedeutung als »eines der wichtigen Werke des Dichters« hervorgehoben hatte, »in denen sich auf kleinstem Raum seine Hauptthemen gültig ausgeformt haben.« (2)

Dürrenmatt soll im folgenden beim Wort genommen, der »Doppelgänger« vornehmlich auf die programmatische Aussage des Autors hin untersucht werden, dass es ihm um »das Hörspiel als neue künstlerische Möglichkeit« gehe. Gegenstand der anschliessenden Betrachtungen ist deshalb nicht so sehr die auf der zweiten Ebene vorgeführte Auseinandersetzung zwischen dem Mann und seinem Doppelgänger als Parabel menschlichen Seins, sondern vielmehr die auf der ersten Ebene spielende Parabel der Entstehung und Veränderung dieser Parabel in der Auseinandersetzung zwischen dem Schriftsteller und dem Regisseur. Dürrenmatts erstes Hörspiel ist somit ein frühes Zeugnis für seine bis ins Alterswerk wachsende Neigung, die »eigene Biographie, das Werden, die Entwicklung, das Wachsen von ›Stoffen‹ zu ›Geschichten‹, zu künstlerischer Gestaltung« in seine Texte einzubeziehen. (3) Die Konfrontation mit dem gesunden Menschenverstand des Praktikers in Gestalt des Regisseurs dient Dürrenmatt zugleich zur Betonung des hermetischen Charakters seiner »dunklen Geschichte«. (S.297) (4)

Im Unterschied zu Frisch, dessen allwissender »Verfasser« die Geschichte von Herrn Biedermann von ihrem Ende her erzählt, geht Dürrenmatt im »Doppelgänger« gewissermassen vom Nullpunkt aus: Der Schriftsteller hat dem Regisseur »versprochen, eine Geschichte zu erzählen«; es ist »eine dunkle Geschichte«, die ihm »auf dem Herzen liegt« und von der er nicht viel mehr weiss »als das Motiv« (S.297). Nur diesem gilt sein Interesse; alles andere, »was sonst wichtig wäre«, tritt hinter das »Gleichnis« zurück. (S.313) Dessen Inhalt ist rasch erzählt: Es ist das Gleichnis vom Mann, den sein Doppelgänger in der Nacht aufsucht, um ihm mitzuteilen, dass er von einem unbekannten Gericht zum Tode verurteilt worden sei; das Gericht habe ihn dazu bestimmt, die Schuld für einen Mord zu tragen, den er, der Doppelgänger, begangen hat; der Mann erschrickt zwar über den Anblick seines Ebenbildes zu Tode, schreit aber seine Unschuld in die Nacht seiner Kerkerzelle, in die er auf Veranlassung des Gerichts geworfen wird; an dieses zu appellieren, ist nicht möglich, da angeblich die Schuld des Verurteilten »deutlich« (S.302) und – wenn man die Geschichte von ihrem paradoxen Ende her betrachtet – fraglich ist, ob das Gericht überhaupt existiert. Der Doppelgänger befreit den Mann und bringt ihn in eine Situation, in der er gerade durch den Versuch, sich seinem Schicksal zu entziehen, zum Mörder wird: Er tötet zunächst die Geliebte des Doppelgängers und danach, als er erfährt, dass er nur dessen Instrument, sein »Henker« war, auch diesen; sterbend verrät der Doppelgänger dem Mann, dass er im Namen des Gerichts frei gewesen wäre, wenn er seine Schuld auf sich genommen hätte; schreiend und sich selbst bezichtigend eilt der Mann durch die Stadt, um sich der Gerechtigkeit des Gerichts auszuliefern.

Renate E.Usmiani deutet diese »dunkle Geschichte« als Ausdruck der Auflehnungsversuche gegen die »Paradoxa des Protestantismus«, denen der Pastorensohn Dürrenmatt in seiner Jugend »ausgeliefert« war, »schutzlos und nackt«, wie er in seinen Erinnerungen schreibt. (5) Der »Doppelgänger« behandelt demnach in gleichnishafter Form die »Urthemen des Protestantismus: Vorbestimmung, Gerechtigkeit Gottes, Schuldigwerden des Menschen.« Im Motiv der vollkommenen »Willensunterwerfung« sieht sie eine genaue Entsprechung zum protestantischen »wahren Glaubensakt«, wie er sich in Luthers Brief »de servo arbitrio« an Erasmus von Rotterdam ausdrückt. (6) Diese Deutung wird bestätigt durch eine späte Anmerkung Dürrenmatts, der 1980 den »Doppelgänger« als ein Werk bezeichnete, »das, ganz in meiner von Kierkegaard ausgelösten religiösen Dialektik verhaftet, sich in den christlichen Paradoxien herumhetzt, im Versuch, das Problem der Prädestination darzustellen. Die Prädestination prüft den christlichen Glauben auf eine unbedingte, ans Unmenschliche grenzenden Weise, sie fordert einen Glauben an einen absoluten Gott, der so absolut ist, dass er auch die Freiheit eliminiert.« (7) Elisabeth Brock-Sulzer geht vom paradoxen Schluss aus und interpretiert die Begegnung des Menschen mit dem Nichts als Verweis auf die immanente Gerichtsbarkeit der Seele: »Der Mensch ist sein eigener Richter, und damit er das vermöge, trifft das Ich sich mit dem Sich, dem Doppelgänger. Alles im Werk Dürrenmatts ist im Grund solches Gerichthalten, und wenn der Mensch dem Nichts begegnet – wie hier in dem Schlösschen, so ist es nur, damit er um so strenger verwiesen werde auf den eigentlichen Richtplatz des Menschenlebens, die richtende, weil wissende Seele.« (8) Das Nichts will die Autorin aber nicht in existentialistischem Sinne verstanden wissen, sondern als Verkörperung einer den menschlichen Verstand transzendierenden Ordnung, nach welcher die Schuld des Menschen vorbestimmt ist und dieser um den Tod als sein Urteil wissen und dieses annehmen muss.

Während Elisabeth Brock-Sulzer den Rahmen, in welchem der Regisseur das Spiel einem »halb widerstrebenden, halb neugierig sich fügenden Schriftsteller« entlockt, als einen ins Werk integrierten Ausdruck des Anpassungsprozesses sieht, »dem sich Dürrenmatt später anlässlich der jeweiligen Inszenierung seiner Dramen unterzogen hat« (9), fasst Renate E.Usmiani die komplizierte Verquickung der beiden Ebenen als eine »in der Art Pirandellos« inszenierte »Verwischung der Grenzlinie zwischen Wirklichkeit und Bühnentäuschung« auf; sie deutet den »Doppelgänger« als »Theater im Werden«, das den Hörer bewusst im Ungewissen lässt über seinen Realitätsgehalt, »in der Haltung des Pirandellischen ›sogno – ma forse no‹.« Der Zusammenfall der beiden Ebenen am Schluss des Spiels führt, wie sie am Beispiel der späteren Arbeiten »Die Panne« und »Abendstunde im Spätherbst« zeigt, zur Erkenntnis, dass die Wirklichkeitsebene auf Täuschung beruht, die phantastische Ebene aber ureigenste Wirklichkeit widerspiegelt. (10)

Dialogpartner der ersten, der Wirklichkeitsebene sind die beiden Figuren des Schriftstellers und des Regisseurs. Im folgenden soll untersucht werden, wie sie beim Entwurf und bei der gemeinsamen Ausgestaltung des Gleichnisses vorgehen und wie sie sich zu ihrem Produkt verhalten. In der Rolle des Schriftstellers manifestiert sich aus dieser Sicht das Selbstverständnis des (allerdings noch völlig unerfahrenen) Hörspielautors Dürrenmatt; der Part des Regisseurs lässt Erwartungen und Vorurteile erkennen, welche der junge Dramatiker den Exponenten des Mediums Radio entgegenbrachte. Arthur Welti war Autor und Regisseur in Peronalunion, was entscheidend zum Gelingen seines Hörspiels »Napoleon von Oberstrass« beigetragen hatte; diese beiden Funktionen voneinander zu trennen und in seinem Hörspiel zu thematisieren, hatte er keinen Anlass. Dürrenmatt stellte sich nun erstmals dem Problem, dass das Hörspiel – weit mehr als jedes andere literarische Produkt – mitbedingt wird durch die Erfordernisse des Mediums, welche im Normalfall der Regisseur gegenüber dem Schriftsteller vertritt. Er ging aus von der Arbeitsteilung zwischen Schriftsteller und Medienvertretern und sah im Radio einen Auftraggeber, dem er für seine Bestellungen auch eine gewisse Mitsprache bei der Produktion des Textes zu konzedieren bereit war; damit ging er von der seit dem Hörspielwettbewerb 1937/38 gängigen Praxis aus, die ihm selbst 1950 einen Auftrag für sein erstes produziertes Hörspiel »Der Prozess um des Esels Schatten« einbrachte. Obwohl Dürrenmatt seinen Autor als »Schriftsteller« bezeichnet, charakterisiert er ihn als »Sprachsteller« im Döblinschen Sinne, indem er ihn mit präzisen Vorstellungen zur akustischen Realisierung seines Hörspiels ausstattet. Die Arbeit des Schriftstellers und des Regisseurs greifen aber in Dürrenmatts Spiel viel weiter ineinander, als dies bei der Produktion von Hörspielen normalerweise zutraf. Die durch den Regisseur vermittelten dramaturgischen Regeln der Gestaltung richten sich, mindestens teilweise, nach der Beurteilung der Rezeptionserwartungen der Hörer durch die Vertreter des Mediums. Welti hatte den Hörer zwar nicht ausdrücklich in sein Spiel einbezogen, doch ist dessen Position zum Beispiel in der Perspektive, in welcher die Rede des Gemeindevicepräsidenten wiedergegeben wird, bereits angedeutet. Auch Dürrenmatt lässt den Hörer – im Unterschied etwa zu Walter Oberer – noch nicht persönlich auftreten, und er spricht ihn – im Gegensatz etwa zu Max Frisch – nicht direkt an, doch wird dieser immerhin ausdrücklich genannt und als Adressat des Spiels berücksichtigt. Seine Position ist auch, allerdings stark gebrochen, in der Haltung des Regisseurs vermittelt und damit gleichfalls Thema dieses Hörspiels.

Es fällt dem Schriftsteller »schwer, diese Geschichte zu erzählen, aus Furcht, nicht verstanden zu werden«, und dies ist ihm am wichtigsten. Von Bedeutung sind die Nacht, die den Mann umgibt, »die Einsamkeit seiner Seele und der Abgrund des Schlafes, in den er versunken« ist. (S.298) »Eine Handlung stellt sich immer zur rechten Zeit ein.« (S.297) Konkretisierungen wie etwa Name, Beruf und soziale Stellung des Mannes, um welche der Regisseur bittet, scheinen ihm »unwichtig«, »nebensächlich«, ja teils geradezu lästig. Dennoch ist er in dieser Hinsicht zu Konzessionen bereit und gesteht ihm die gewünschten Namen, eine weite, die Stimmung eines Traums vermittelnde Hügellandschaft und ein »Hohes Gericht« zu, das er auf Wunsch in einem ebenso traumartig geschilderten Rokokoschlösschen tagen lässt. Vom Regisseur fordert der Schriftsteller Stimmen, die er sich auf ganz bestimmte Weise vorstellt: Für den Mann (Pedro) braucht er »eine ruhige Männerstimme, in der wir eine gewisse Furcht zu hören vermeinen« (S.298), der Doppelgänger (Diego) »sollte eine tiefere Stimme haben, bestimmt und gross« (S.299), und die Stimme der Frau (Inez) denkt er sich im Unterschied zum Regisseur nicht »mädchenhaft«, sondern »einer letzten Verzweiflung entsprungen und sehr zwingend.« (S.310) Auch auf die Sprechweise legt er grosses Gewicht: Beim ersten Erscheinen des Doppelgängers ist der Mann »von der ersten Furcht gelähmt, so dass er nur langsam die Sprache findet. Dann aber spricht er ruhig und deutlich.« (S.299) Später beanstandet der Schriftsteller den Sprechstil der beiden als »zu pathetisch« und fordert, sie »sollten nüchtern und klar sprechen.« (S.305) Geräusche setzt er je nach Bedarf als dramaturgisch relevante Elemente oder als Kulissen ein: Mit einem Geräusch, welches das Eindringen des Doppelgängers signalisiert, beginnt das Spiel (S.299). Schritte, deren Sinn der Regisseur nicht einsieht, untermalen eine ganze Szene (S.306 ff) und leiten den Prozess ein, der den Mann zur Einsicht seiner Schuld bringt. Ein Schuss fällt zur Überraschung des Regisseurs, der (und mit ihm der Hörer) eine ganz andere Wendung des Geschehens erwartet hat (S.314). Der Schuss ertönt noch einmal als Wiederholung und nunmehr ironische Illustration der Erzählung, die der Schriftsteller zur Erläuterung des Geschehens nachträgt (S.315); auf ähnliche Weise verwendet dieser am Schluss das Hämmern eines Spechts und das Rufen eines Kuckucks als Tonkulissen, welche das früher bloss mit epischen Mitteln entworfene Bild des Rokokoschlösschens (vgl. S.302 f) zum Leben erwecken und den Übergang von der präsentativen zur repräsentativen Ebene einleiten. (vgl. S.323)

Der Regisseur verfügt »über viele Stimmen«, von denen er mit Stolz sagt, »dass es gute Stimmen sind.« (S.297) Diese stellt er dem Schriftsteller »zur Verfügung« (S.310), und er betont, dass er bereit ist, ihm damit zu »dienen«. (S.299) Dürrenmatt setzt ihn als Kontrollinstanz ein, der es zusteht zu fragen, wenn er etwas nicht versteht, und damit eine gewisse Hebammenfunktion auszuüben. Der Schriftsteller bestätigt ihn ausdrücklich in diesem Selbstverständnis: »Fragen Sie, und Sie werden mir helfen.« (S.298) In kritischerem Licht erscheint sein Beharren auf den »Gesetzen der Dramatik« (S.300), auf die er sich protestierend beruft, als der Schriftsteller sich weigert, das Gericht ins Spiel zu ziehen: »Ich bin verpflichtet, meinen Hörern eine geordnete Geschichte zu bieten. Wenn jemand zum Tode verurteilt worden ist, muss man wissen, wer zum Tode verurteilte« (S.299); Für den Fortgang der Handlung wünscht er sich »etwas Handfestes«, wie der Schriftsteller ironisch vermerkt. »Zwei Morde in zehn Minuten. Wie im Kino. Sie machen Fortschritte«, lobt ihn der Regisseur. (S.318) Am wichtigsten aber scheint ihm eine Lösung der Konflikte am Schluss der Geschichte. (S.319) Mehr von den ungeschriebenen Gesetzen der Hörspieldramatik verrät sich auch in seinem Kommentar zu den vorgeschlagenen Namen: »Meier« ist nach seiner Ansicht »kein Name für ein Hörspiel.« »Pedro« ist besser. »Das klingt nach fremdem Lande.« (S.313) Näheres über das Leben und Schicksal der Protagonisten zu erfahren, dies scheint ihm wesentlich im Hinblick auf die Interessen der Hörer: »Man soll mit der menschlichen Neugier rechnen.« (S.312) Seinen Wunsch nach Exotik und Ambiance erfüllt ihm der Schriftsteller, indem er die Landschaft und das Rokokoschlösschen des Gerichts ausgestaltet »wie im Traum«. (S.297 f, S.302 f) Doch mit dem »Wie« kann sich der Regisseur nicht zufriedengeben. Logischer Aufbau und Lösung der Konflikte haben Priorität vor aller Ambiance: »Der Morgen mag noch so silbern und noch so mächtig über der Stadt hängen [...]. Eine billige Attrappe von etwas Nebel und Licht genügt nicht, den Schluss zu verherrlichen, den Sie Ihrer Geschichte geben wollen.« Daher besteht er hartnäckig darauf, das Geschehene als Traum zu deklarieren: »Das wäre wenigstens eine Lösung gewesen. Im Traum ist alles erlaubt, auch das Ungerechte.« (S.319)

In diesem Punkt aber stösst der Regisseur auf harten Widerstand. Schon am Anfang des Hörspiels nennt ihn der Schriftsteller einen Pedanten, als dieser ihn verpflichten will, Verbindliches über die Wirklichkeit des hohen Gerichts auszusagen. (S.302) In der Schlussszene tritt nun der Gegensatz zwischen den beiden offen zutage, die Auseinandersetzung nimmt Züge eines Kampfes an. Der Regisseur will keinesfalls zulassen, dass aus der Doppelgänger-Geschichte eine »ärgerliche«, die Hörer möglicherweise verärgernde Geschichte wird. Der Schriftsteller aber quittiert seine schlimmsten Befürchtungen mit dem lakonischen Bekenntnis: »Es ist mein Prinzip, nur ärgerliche Geschichten zu erzählen.« (S.319) Er ist seinem Selbstverständnis nach »kein Dichter« (S.312), sondern ein Schriftsteller, der dar-stellt (S.323); ähnlich wie seine Figur Inez begnügt er sich damit, das Paradox aufzuzeigen, weigert sich aber, es zu interpretieren und mit einem billigen Kniff wieder aufzulösen. Als er dem Regisseur diesen Ausweg verwehrt, reagiert dieser mit Panik. Er verwechselt die Namen, die auf seinen eigenen Wunsch eingeführt worden sind, verwirft diese nun wieder und gesteht, es gehe ihm »um die Sache, nicht um Namen.« (S.319) Nun, da es ihm unmöglich ist, sich die Geschichte als Traum vom Leib zu halten, verliert er jede Distanz zum Geschehen und zu den Figuren. Er besteht auf seinem Recht als Regisseur sich einzumischen und verlangt den Mann zu sprechen, was ihm der Schriftsteller durch Fortführung der Erzählung ermöglicht. Der Regisseur wechselt die Spielebene und macht sich zum Verteidiger des Mannes, der aber, ähnlich wie Alfredo Traps in der zweiten Hälfte der »Panne«, sein Ansinnen zurückweist. Als ihn nun der Regisseur auffordert, ihm zu folgen und sich auf die Ebene des Spiels zu begeben, reagiert der Schriftsteller zunächst »bestürzt« (S.323). Da sich ihm der Protagonist der Geschichte entzogen hat, sieht der Regisseur seine letzte Chance darin, das Hohe Gericht anzuklagen, das – wie der Schriftsteller einwendet – er selbst ja »ins Spiel gebracht« hat. »Die letzte Instanz ist vorhanden«, der Schriftsteller hat sich auf diese Fiktion eingelassen und sie konkretisiert, und der Regisseur pflegt »die Schriftsteller immer beim Wort zu nehmen.« Doch das Rokokoschlösschen, in welchem nun der Verurteilte verschwindet, erweist sich trotz der davor parkierten »schwarzen Automobile der hohen Richter« und trotz der »von den unzähligen Tritten der Schuldigen« ausgehöhlten steinernen Treppe (S.324) als leer: Im Gerichtssaal begegnen die beiden nur »der verwitterten Statue der Gerechtigkeit«. Im übrigen aber: »Keine Richter, kein Angeklagter, nur ein Fenster, das auf und zu klappt im Wind, mit verstaubten Scheiben.« Das Hörspiel endet in einer an Kafka gemahnenden Wirklichkeit, die traumhaft erscheint, aber kein Traum ist. Der Regisseur reagiert »wütend« auf diesen Misserfolg; er gesteht damit ein, dass sein Versuch, eine Lösung zu erzwingen, gescheitert ist. Seine Enttäuschung macht sich in dem Ausruf Luft: »Und damit soll ich mich zufrieden geben?« Der Schriftsteller aber, der seine Fassung längst wieder gefunden hat, entgegnet nüchtern: »Damit müssen wir uns zufrieden geben.«

Die Auseinandersetzung endet also mit der Niederlage des Regisseurs, der hinnehmen muss, dass eine »dunkle Geschichte« nicht ohne weiteres im Sinne der geltenden »Gesetze der Dramatik« gerettet werden kann. Dürrenmatt führte mit seinem Hörspiel-Erstling die gängige Dramaturgie des Illusionshörspiels ad absurdum, indem er die Postulate der Identifikation und Verinnerlichung auf die Spitze trieb. Der Regisseur als Anwalt und Stellvertreter des Hörers fordert einen Helden, mit dem er sich identifizieren kann. Alogische Elemente, die sich der Verinnerlichung widersetzen, haben allenfalls in der im Hörspiel bereits bewährten Form des Traumes Platz. Da der Schriftsteller diese Lösung ablehnt, versucht der Regisseur die Verinnerlichung zu erzwingen, indem er sich in die Geschichte hineinbegibt, um deren Paradoxie mit rationalen Mitteln zu ergründen und aufzulösen. Er verrät damit, dass ihm das distanzierte Verhältnis zum Hörspiel im Hörspiel unerträglich ist. Auch der Schriftsteller lässt sich in die zweite Spielebene hineinziehen, aber nur, um dem Regisseur die letzte Konsequenz seines Vorgehens handgreiflich vor Augen zu führen und ihn damit scheitern zu lassen. Die poetische Szenerie der weiten Hügellandschaft und des Rokokoschlösschens, Verkörperung der dramaturgischen Vorstellungen des Regisseurs, erweist sich als leere Staffage. Damit nahm Dürrenmatt seine Vorbehalte gegenüber dem Illusionshörspiel vorweg, wie es auch in der Schweiz während der fünfziger und sechziger Jahre weiterhin kultiviert wurde. Seine erste Radioarbeit ist nicht nur ein als »werdendes Theater« konzipiertes Spiel, wie seine Interpretinnen nahelegen, sondern enthält auch bereits etwas von der Distanzierung, die Günter Eich im Rückblick auf sein Hörspielwerk artikulierte. (11)

Durch den Ausgang seines Hörspiels verweigerte sich Dürrenmatt einer etablierten Dramaturgie, die – hierin ganz in der Tradition eines Orson Welles – darauf tendierte, die Fiktion des Hörspiels als Realität auszugeben und damit dem Hörer die Identifikation mit den Hauptfiguren und die Verinnerlichung des Geschehens zu ermöglichen. Dies bedingte mehr oder weniger harmlose Geschichten, die ihre Glaubwürdigkeit oft durch alltägliche oder historisch belegte Stoffe legitimierten, die klar zwischen den Sphären des Realen und des Irrealen unterschieden und die mit der Auflösung allfälliger Widersprüche und Konflikte endeten. Die erste Ebene seines Hörspiels diente Dürrenmatt unter anderem dazu, Distanz zu schaffen zum Produkt schriftstellerischer Arbeit und dieses als eine Realität sui generis darzustellen. Er stellte sich einen Hörer vor, der seiner Geschichte ebenso nüchtern gegenübersteht, wie sie der Schriftsteller hervorbringt. Statt sich wie der Regisseur mit Problemen der Wahrscheinlichkeit zu befassen und sich zu fragen, ob etwa das hohe Gericht »wirklich oder nur eine Erfindung des Doppelgängers« sei, soll er mit dem Schriftsteller davon ausgehen, »dass es wirklich in unserer Geschichte ist.« (S.302) Alogik und Aporie der Geschichte verweisen eben auf deren die vordergründige Handlung transzendierenden Sinn, den der Schriftsteller am Anfang des Spiels als »das Motiv« bezeichnet und den Dürrenmatt in seiner 1980 verfassten Anmerkung zum »Doppelgänger« in begriffliche Form fasste.

Wie Renate E.Usmiani nachweist, gelang es Dürrenmatt in all seinen Hörspielen, die wichtigsten »Grundregeln des Gebrauchshörspiels« bewusst zu ignorieren und dennoch dem Massenmedium Radio vollkommen adäquate Werke zu schaffen, die im Unterschied zu den Produktionen des »traditionellen« literarischen wie des »neuen« Hörspiels in Deutschland nicht auf ein elitäres Publikum abzielten. (12) Dass sie beim Schweizer Publikum entsprechenden Erfolg hatten, lässt sich am Beispiel des Sommerwunschprogramms 1964 abschätzen: Unter den neun Hörspielen, die von den Hörern aus zwei Dutzend zur Wiederholung vorgeschlagenen Produktionen ausgewählt wurden, stand Dürrenmatts »Ein Abend im Spätherbst« an zweiter Stelle; »Rip van Winkle« von Frisch fiel ausser Konkurrenz. Dasselbe wiederholte sich ein Jahr später, als eine Hörspielbearbeitung von Dürrenmatts »Die Physiker« wiederum den zweiten Rang erhielt, während »Rip van Winkle« auch diesmal nicht gewählt wurde. (13) Der »Doppelgänger« ist wohl, ungeachtet des Lobes, das der Schriftsteller vom Regisseur für seine »Fortschritte« erhält, das am wenigsten auf unterhaltende Wirkung hin gearbeitete Hörspiel Dürrenmatts. Der Regisseur missversteht es als ein solches, wenn er den Schriftsteller für den gelungenen Doppelmord lobt; diesem aber geht es um das »Motiv«, welches in seiner theologischen Komplexität wenig auf massenmediale Ansprüche abgestimmt ist. Der Bruch mit dem gesamten Kanon der in Rundfunkhandbüchern festgeschriebenen Regeln ist bestimmend für Dürrenmatts Hörspiel-Erstling und wohl nebst der schwierigen Thematik der zweite Hauptgrund für dessen Rückweisung durch Studio Bern. Dass nicht eine auf ein bestimmtes Ziel zustrebende Handlung für sein Hörspiel konstitutiv ist, sondern bestimmte Grundmotive, um welche die Handlung in einer »komplizierten Spiralstruktur« kreist (14), wurde gezeigt. Ferner wurde bestätigt, dass auch der »Doppelgänger« mit einer verfremdenden Antiklimax endet, statt zu einem Höhepunkt zu führen, und dass auf diese weit mehr Gewicht fällt als auf die relativ unscheinbare Eröffnungsszene, welche im Gebrauchshörspiel mit besonderer Sorgfalt bedacht wird. Mit der Verurteilung eines nach menschlichen Massstäben Unschuldigen bricht Dürrenmatt eines der wichtigsten Tabus massenmedialer Fiktion.

»Die Ausdrucksweise im Hörspiel soll so einfach als möglich sein. Komplizierte Satzstrukturen sowie lange Beschreibungen, die den Hörer zerstreuen könnten, sind zu vermeiden.« (15) An diesen Grundsatz des unterhaltenden Gebrauchshörspiels hielt sich Dürrenmatt im »Doppelgänger« noch weitgehend. Die Dialoge bestehen zum grössten Teil aus kurzen, einfachen Sätzen; nur einmal beteuert der Mann in einem längeren Monolog seine Unschuld. Die übrigen Textpassagen, die sich über mehrere Zeilen erstrecken, sind Schilderungen des Schriftstellers, welche der Szene Farbe verleihen, oder Erzählpartien, die das Interesse des Hörers durch zügige Fortführung der Handlung in Anspruch nehmen. In der Art der Verschränkung dieser Erzählpartien mit dem Dialog zeigt sich aber Dürrenmatt bereits als »ein Meister der sprachlichen Perspektive«, dessen Können Elisabeth Brock-Sulzer an einem Beispiel aus »Der Prozess um des Esels Schatten« demonstriert. (16) Was Max Frisch durch Erfindung eines »sprachlichen Gestus« anstrebte, wird im »Doppelgänger« an den Stellen des Übergangs zwischen den Dialogen auf verschiedenen Ebenen und zwischen epischen und dramatischen Partien bereits mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit verwirklicht. Gerade durch die Unterbrechung gewinnen die Dialoge des Doppelgänger-Spiels an Spannung; diese wird an zwei Stellen noch erhöht durch Abbrechen und Wiederholen einer Passage auf Wunsch des Regisseurs im einen, das Schriftstellers im anderen Fall. (S.299 f und S.305) Dass Dürrenmatt das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen mit rein sprachlichen Mitteln bewältigt und von technischen Lösungen weitgehend absieht, bedeutet einen weiteren Verstoss gegen die bewährten Grundregeln der Hörspieldramaturgie. Von den vier verschiedenen Arten des Blendensprungs, die Schwitzke beschreibt (17), verwendet Dürrenmatt (wie übrigens auch Frisch) in all seinen Hörspielen fast nur die Stilblende, für die er aber in der Regel keine technischen Hilfsmittel (Veränderung der Raumakustik, Geräuschüberblendung) vorschreibt. Geräusche verwendet er äusserst sparsam und wie gezeigt auch auf spielerische Weise, indem er zum Beispiel innerhalb der Erzählung eine andere Realitätsebene kurz »zitiert«.

Ernst Bringolf hätte jedenfalls nicht leicht einen Autor finden können, der in so idealer Weise seine Vorstellungen vom reinen Worthörspiel verwirklichte wie Dürrenmatt. Selbst die vom Regisseur gewünschte Ambiance schafft der Schriftsteller vornehmlich mit den Mitteln des gesprochenen Wortes. Geräusche dienen ihm als Zeichen, nicht aber zum Aufbau von Stimmung; auch Dürrenmatts Spiel erfordert eine Veränderung der Raumakustik, welche dem »akustischen Wechsel« in Weltis »Napoleon« genau entspricht, doch verzichtet Dürrenmatt in der betreffenden Szene, als Pedro und Diego das Gefängnis verlassen und die ausgestorbenen Strassen der Stadt durchwandern, auf jegliches »Lokalkolorit«: die akustische Gestaltung des Weges, den die beiden zurücklegen, dient allein dem Ausdruck des Prozesses, der vor sich geht. Die Hauptsache jedoch bleibt dem Wort überlassen. Ernst Bringolfs Absage an den Autor ist nur schwer zu begreifen, wenn man weiss, dass er es war, der kurz nach Kriegsbeginn gewagt hatte, Brechts »Verhör des Lukullus« zu inszenieren, ein Hörspiel, das hart an der Grenze dessen lag, was damals in Anspielung auf Hitler noch gesagt werden durfte. Aber Brecht war im Unterschied zu Dürrenmatt ein prominenter Autor, den Bringolf seit langem persönlich kannte, und sein »Lukullus« mutete den Hörern trotz der ungewohnten epischen Grundform keine ärgerlichen Paradoxien zu. Wenn man bedenkt, was für ein komplexes, zumindest auf dem Papier komplex anmutendes Gebilde da ein noch unbekannter junger Autor vorlegte, der sich nicht nur getraute, auf der prinzipiellen Unauflösbarkeit seiner »dunklen Geschichte« zu beharren, sondern der als völliger Laie auch gleich seine eigene Dramaturgie dazulieferte, fällt es schon leichter, die Ablehnung von Dürrenmatts Erstling zu verstehen. Für »ärgerliche Geschichten« wie den »Doppelgänger« existierte 1946 keine angemessene Dramaturgie, da solche noch nie produziert worden und im Spielplan gar nicht vorgesehen waren. Dürrenmatt selbst schrieb denn 1980: »Ich kann mich nachträglich nur wundern, dass ich mit einem solchen Stoff ernsthaft versuchte, Geld zu verdienen.« (18) Durch die Rückweisung des »Doppelgängers« blieb auch ein Stück, das in dialektischer Entsprechung den radikalen Zweifel zum Thema hatte, Fragment. Dürrenmatt bereute rückblickend, dieses Gegenstück mit dem Titel »Der Uhrenmacher« nicht vollendet zu haben, da er es sich zur Zeit seiner Entstehung finanziell nicht leisten konnte. »Die Freiheit des Schriftstellers ist ein Märchen, das Sonntagsschriftsteller in die Welt gesetzt haben, nicht Berufsschriftsteller.« (19) Ein Grund mehr zu bedauern, dass es in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg, die einen Aufbruch zu neuen Ufern wohl gerechtfertigt hätte, den Exponenten von Radio Beromünster an Mut fehlte, das Unvorstellbare zu wagen. Durch ihr übervorsichtiges Verhalten liessen sie sich die Gelegenheit entgehen, ein erstes wirklich modernes Worthörspiel zu produzieren, das als schweizerisches Pendant zu Borcherts Hörspiel »Draussen vor der Tür« wohl hätte bestehen können, indem es in qualitativ mindestens ebenso anspruchsvoller Weise die Themen von Schuld und Gerechtigkeit auf ganz anderer, den Problemen der unmittelbaren Nachkriegszeit entrückter Ebene anging. Mit dem Werk eines Autors, dessen Land vom Krieg verschont geblieben war, hätte 1946 bereits eine thematische Alternative zur Verfügung gestanden, wie sie so erst Jahre später im Hörspielprogramm deutschsprachiger Sender ihren Platz fand.

Für das Jahr 1950 stellte die Radiogenossenschaft Bern aus Anlass ihres 25-jährigen Bestehens und zur Feier der Eröffnung eines neuen Studios einen Betrag von über Fr.25'000.-- für Aufträge bereit, welcher für »besonders festliche und zum Teil repräsentative Programme« verwendet werden sollte. (20) Auch Friedrich Dürrenmatt, von dem unterdessen immerhin schon drei Stücke auf der Bühne aufgeführt worden waren und den man nun respektvoll zu den führenden Schweizer Autoren zählte, erhielt den Auftrag, ein Hörspiel zu schreiben. Allzu hoch konnte das Honorar nicht ausfallen, da aus dem Jubiläumskredit nebst Dürrenmatts Arbeit zwölf weitere Hörspiele, sechs »Prosa-Aufträge« und acht musikalische Kompositionen finanziert werden sollten, doch verstand es der gewiefte Autor immerhin, eine Heraufsetzung des vorgeschlagenen Honorars von Fr.800.-- auf runde Fr.1'000.-- zu erwirken. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten fand er auch seine Freude an der Hörspielarbeit wieder, und er wiederholte sein früheres Bekenntnis zu dieser dramatischen Gattung: »Das Radio hat neben dem Theater ungeahnte Möglichkeiten. Ich hoffe, nicht auf dem falschen Wege zu sein.« (21) Aus der ersten Anfrage an den Autor ging hervor, dass das Berner Studio besonders am Thema der Begegnung von Vertretern verschiedener Nationen (man dachte etwa an das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen) interessiert war. Des weiteren wünschte man sich eine Arbeit, »die formal den besonderen Gestaltungsgesetzen des Radios angepasst sein müsste.« (22) Die Reaktion auf die Lieferung des ersten Teils des Manuskripts fiel denn eher zwiespältig aus, hielt sich doch der Autor auch diesmal in keinem Punkt an die gestellten Anforderungen. Statt einen Beitrag zur aktuellen europäischen Situation zu liefern, griff er auf ein scheinbar entlegenes, antikes Thema zurück, zu welchem er den Stoff in Wielands »Abderiten« gefunden hatte. Die Bearbeitung ist aber, wie Elisabeth Brock-Sulzer zu Recht einwendet (23), weit weniger frei, als Dürrenmatt wahrhaben wollte; einige Teile sind sogar wörtlich übernommen, ebenso das Seemannslied des Tiphys, das von Bertolt Brecht stammt. Darin drückt sich vielleicht eine gewisse Verzagtheit Dürrenmatts aus, der sich noch immer nicht ganz sicher war, ob er mit seiner Hörspielkunst auf dem richtigen Weg sei, und sich wohl deshalb in seinem zweiten Anlauf wenigstens in stofflicher Hinsicht lieber auf bewährte Vorbilder verliess. Dürrenmatts Hörspiel »Der Prozess um des Esels Schatten« (5.4.51; deutsche Erstsendung: BR, 13.5.52) steht im Hinblick auf seine stilistische Heterogenität etwas abseits von den übrigen Hörspielen und wurde deshalb schon als das am wenigsten gelungene bezeichnet. (24)Seinen im »Doppelgänger« entwickelten formalen Ansätzen blieb Dürrenmatt durchaus treu, was ihm die Ermahnung von Kurt Bürgin eintrug, besonders auf »gewisse Übergänge vom Erzählenden zum Dialogischen« zu achten, welche ihm »ziemlich brüsk« erschienen. (25) Da der bereits abgelieferte erste Teil zu ausführlich geraten war, schienen dem Regisseur Kürzungen, vor allem in den breit angelegten Monologpartien, unumgänglich, und er hielt den Autor an, diese im bestehenden Text selbst vorzunehmen und den zweiten Teil straffer zu gestalten. Seine Funktion als Regisseur bei der Entstehung des Werks beschränkte sich damit, anders als im »Doppelgänger« vorgesehen, auf das Eindämmen der schriftstellerischen Produktivität. Im übrigen zeigte sich Bürgin von der stark episch geprägten Form etwas überrascht, doch war sein Urteil gesamthaft positiv: »[...] schon nach den ersten paar Seiten beginnt man zu schmunzeln und freut sich ob den zahlreichen quasi zum Hörer gesprochenen Monologen und monologischen Erläuterungen, die dem Spiel etwas Doppelbödiges und doch auch Komödiantisches verleihen.« Erstaunlich nur, dass er das über dreissig Stimmen umfassende Personenverzeichnis, nach den Regeln der zeitgenössischen Hörspieldramaturgie ein Ding der Unmöglichkeit, mit keinem Wort erwähnte. Doch offenbar war man mit dem neu gewonnenen Hörspieldichter zufrieden; schon zu Beginn des folgenden Jahres figuriert Dürrenmatt als einer von mehreren Autoren der ersten Folge der »Unheimlichen und unerklärlichen Geschichten« (5.1.52) des Basler Studios.

In den Hörspielen spiegelt sich nach Renate E.Usmiani die gesamte künstlerische und thematische Entwicklung Dürrenmatts. Nach dem »Doppelgänger«, den sie einer ersten, von religiösen Paradoxien geprägten Periode zuordnet, beginnt mit dem »Prozess um des Esels Schatten« die zweite Periode der skeptischen Stellungnahme zu Zeitproblemen. War diese in der »Doppelbödigkeit« der Parabel nur erst erahnbar, so nannte sich das folgenden Hörspiel, »Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen« (BR, 28.7.52), im Untertitel schon »Ein Kurs für Zeitgenossen«; in der Situation und in den archetypischen Figuren zeigt sich eine enge Verwandtschaft mit dem »Doppelgänger«, dessen Grundthemen nun in säkularisierter Form aufgenommen wurden. Dieses Hörspiel wurde vom Bayerischen Rundfunk urgesendet. Radio Beromünster blieb, wie bei allen folgenden Dürrenmatt-Hörspielen, nichts anderes übrig, als die deutsche Inszenierung zu übernehmen oder eine eigene Fassung zu produzieren (1953). »Stranitzky und der Nationalheld« (NWDR Hamburg/SDR, 1952; Übernahme 1952) ist in der Thematik ganz auf die Nachkriegssituation in der Bundesrepublik zugeschnitten; als eine bitterböse Satire, wie man sie in dieser Offenheit und Aktualität von Dürrenmatt noch nicht kannte, richtete sich das Hörspiel in einem Rundumschlag zu gleichen Teilen gegen das falsche Pathos der heimgekehrten Kriegsinvaliden, gegen ideologischen Missbrauch des Heldenkults und gegen die manipulativen Methoden der Medien. Die Schweizer Erstinszenierung, welche Katja Früh volle 37 Jahre nach der Ursendung besorgte (DRS-1, 29.10.89), kam etwas spät und zeigte vor allem, dass diesem Werk heute kaum mehr als historische Bedeutung beigemessen werden kann. Weltpolitische Aktualität spiegelt sich in der bösen Utopie des Science-fiction-Hörspiels »Das Unternehmen der Wega« (BR/SDR/NDR, 18.1.55); dreizehn Jahre vergingen, bis der seit kurzem amtierende Leiter der neuen Abteilung »Dramatik« es wagte, Dürrenmatts Vision einer totalitären Zuspitzung des Kalten Krieges in einer durch den Autor leicht aktualisierten Fassung dem Schweizer Publikum vorzustellen (DRS-2, 1.12.68). Mit dem »griechischen« Spiel »Herkules und der Stall des Augias« (NWDR Hamburg, 1954; Eigenproduktion: B-MW, 20.10.55) kehrte Dürrenmatt in Form und Thematik zu seinem ersten gesendeten Hörspiel zurück und schloss damit den Kreis der Gruppe von Hörspielen, welche in direkter oder indirekter Weise auf aktuelle Gesellschaftsprobleme Bezug nahmen. Einer dritten Periode, welche durch eine Verengung der Thematik »auf realistisch gezeichnete zeitgenössische Situationen und konkrete Figuren innerhalb dieser Situationen« geprägt ist (26), lassen sich die beiden mit höchsten Auszeichnungen bedachten Hörspiele »Die Panne« (BR/SDR, 17.1.56; Hörspielpreis der Kriegsblinden 1956; B-MW, 26.4.56) und »Abendstunde im Spätherbst« (ORF, 1958; Prix Italia 1958; Eigenproduktion: B-UKW, 20.3.58; Schweizer Fernsehen, 26.11.58) zuordnen. Mit dem Schluss der »Panne« zog Dürrenmatt nun die Konsequenz aus einer »Lehre«, die er sich selbst mit dem Ausgang des »Doppelgängers« erteilt hatte: Indem er Traps auf Distanz zu den Ereignissen des vorigen Abends gehen lässt, richtete er sich scheinbar nach den Forderungen des gängigen Illusionshörspiels. Dem reflektierenden Hörer aber bleibt der Pessimismus nicht verborgen, der gerade durch das Ausbleiben der Katastrophe und durch die so entstehende zyklische Struktur vermittelt wird; Traps ist am Ende derselbe rücksichtslose, zu allem entschlossene Draufgänger wie zuvor. Die Kreisform nimmt den aporetischen Aufbau des »Doppelgängers« wieder auf, und die harmonische Lösung erweist sich als bloss scheinbare Konzession, wenn man ihren provokativen Sinn bedenkt. Dürrenmatt negierte damit einmal mehr die generelle Geltung und Zweckmässigkeit von operationellen Regeln der Dramaturgie. Ob die Änderung des Schlusses in der epischen Fassung und in der Bühnenversion der »Panne« wirklich eine Verschärfung der Aussage darstellt, müsste sorgfältig erwogen und unter Berücksichtigung der besonderen Rezeptionsbedingungen diskutiert werden.

Dass ihn das Hörspielgenre während der fünfziger Jahre nicht mehr nur aus künstlerischen, sondern auch aus finanziellen Gründen interessierte, da eben »Hörspiele benötigt und bestellt werden«, bekannte Dürrenmatt offen, und er lobte ausdrücklich die »anständigen« Honorare der deutschen Sender. (27) Vor allem der Kriminalroman und das Hörspiel boten ihm als Berufsschriftsteller eine willkommene Gelegenheit, Geld zu verdienen und sich und seine Familie durchzubringen. (28) Zugleich aber hob er auch die künstlerischen Vorteile dieses literarischen Nebenschauplatzes hervor: »Und dann noch das Beste: mit deinen Hörspielen tauchst du wieder unter (falls du nicht gar zu offensichtlich in ihnen dichtest, reines Wort, Raumlosigkeiten usw.), kein ernsthafter Kritiker nimmt sie wahr, liest sie, er schaut sie ja nur als reine Gelegenheitsarbeiten an, und so lässt sich gerade in ihnen ungestört oft das Wesentlichste tun oder doch vorbereiten.« (29) Diese Provokation hätte eigentlich die Verfechter der etablierten Beromünster-Dramaturgie aus ihrer Lethargie aufschrecken müssen. Wie Frisch machte Dürrenmatt das Hörspiel der Vorbereitung seiner Hauptwerke dienstbar, doch im Unterschied zu seinem Kollegen nutzte er es auch als literarische Werkstatt. Damit wies Dürrenmatt dem akustischen Medium eine bedeutende, wenn auch nicht erstrangige Position im Literaturbetrieb zu, die es in den folgenden Jahrzehnten zu behaupten und auszubauen galt.

 

(1) Anonym, Alle sind wir schuldig. Friedrich Dürrenmatt: »Der Doppelgänger«, in: tvrz 5/75, S.69; der Brief ist im Archiv von Radio Bern nicht mehr auffindbar. In der Ansage der Wiederholung (DRS-2, 2.5.87) wurde Ernst Bringolf als Adressat genannt und der weitere Inhalt, der im folgenden referiert wird, zitiert.<br>
(2) Brock-Sulzer, 1960, S.266
(3) A.-G.Kuckhoff, Friedrich Dürrenmatt, in: Pezold, 1991, S.163
(4) Dürrenmatt, 1980, Bd.1; alle folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Werkausgabe.
(5) Usmiani, 1976, S.130; die zitierte Stelle stammt aus: Dürrenmatt, 1966, S.33 f
(6) Usmiani, 1976, S.130 f
(7) Fr.Dürrenmatt, Anmerkung zu »Der Doppelgänger« (geschrieben 1980), in: Dürrenmatt, 1980, Bd.1, S.325
(8) Brock-Sulzer, 1960, S.264
(9) . ib., S.261
(10) Usmiani, 1976, S.141 f
(11) G.Eich: »Die Hörspiele liegen mir schon fern. Bis auf die letzten vier muss ich mich von allen distanzieren. Ich kann sie leider nicht mehr auslöschen – sie sind nun einmal gedruckt. Überhaupt – ich bin die Form des Hörspiels über.« (Coreth, 1971, in: Eich, 1973, Bd.IV, S.414)
(12) vgl. Usmiani, 1976, S.140 ff
(13) vgl. r+f 19/64, S.7; r+f 23/64, S.9; r+f 19/65, S.7; r+f 23/65, S.39
(14) Usmiani, 1976, S.141
(15) ib.
(16) vgl. Brock-Sulzer, 1960, S.250 f
(17) vgl. Schwitzke, 1963, S.248 f
(18) Fr.Dürrenmatt, Anmerkung zu »Der Doppelgänger« (geschrieben 1980), in: Dürrenmatt, 1980, Bd.1, S.325
(19) ib., S.325, Anm.1
(20) 25.Jahresbericht der RGBE, 1950, S.6
(21) Fr.Dürrenmatt, Brief an K.Bürgin vom 13.11.50 (Briefarchiv RDRS, Studio Bern); vgl. dazu auch die übrigen Teile des Briefwechsels vom 27.2.50 bis zum 18.11.50
(22) M.Bolliger, Brief an Fr.Dürrenmatt, 27.2.50 (Briefarchiv RDRS, Studio Bern)
(23) vgl. Brock-Sulzer, 1960, S.249; Dürrenmatt setzte hinter den Titel im Manuskript die Klammerbemerkung: »Nach Wieland – aber nicht sehr«.
(24) vgl. Usmiani, 1976, S.133
(25) K.Bürgin, Brief an Fr.Dürrenmatt vom 18.11.50 (Briefarchiv RDRS, Studio Bern)
(26) Usmiani, 1976, S.138
(27) Fr.Dürrenmatt, Hörspielerisches (1958), in: Dürrenmatt, 1980, Bd.17, S.155 und S.157
(28) vgl. Bienek, 1965, S.132
(29) Fr.Dürrenmatt, a.a.O.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Rauchende Köpfe: Friedrich Dürrennmatt mit Hans Hausmann (Mitte) bei den Aufnahmen zu seinem Hörspiel "Das Unternehmen der Wega" 1968
(Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Basel )